Lemkin-Dokumentationszentrum
Als wir die Datenbank „Aufzeichnungen des Terrors“ mit Zeugnissen der europäischen Zivilbevölkerung über den Zweiten Weltkrieg aufbauten, gingen wir davon aus, dass die Sammlung der Aussagen von Augenzeugen und Opfern unmenschlicher Regime bereits komplett sei. Massenverbrechen mitten in Europa schienen der Vergangenheit anzugehören, und die Rolle der Historikerinnen und Historiker, der Archivarinnen und Archivare des Pilecki-Instituts bestehe darin, diese Zeugnisse zu sammeln, zu erfassen und an einem Ort zugänglich zu machen. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte sich alles. Seit diesem Tag wird das Leben der Menschen in Kyjiw, Mariupol, Butscha und Tausenden anderen ukrainischen Städten, Ortschaften und Dörfern vom Krieg, Hunger, Angst, Folter, Vergewaltigungen und Tod überschattet. Die Methoden der russischen Besatzer bleiben seit 80 Jahren unverändert. Wir kennen bereits ihre Mechanismen aus den Berichten über sowjetische Verbrechen: Hass, kein Respekt vor Menschenleben, Aggression gegen Zivilisten und die Überzeugung, straflos zu sein. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Die Datenbank „Aufzeichnungen des Terrors“ muss ausgebaut werden. Aber wer könnte die Berichte der ukrainischen Opfer dokumentieren? Wo und wie?
Am 26. Februar 2022 – zwei Tage nach der russischen Invasion – wurde vom Pilecki-Institut das Raphael-Lemkin-Zentrum für die Dokumentation von russischen Verbrechen in der Ukraine (kurz Lemkin-Dokumentationszentrum) ins Leben gerufen. Seine Mission ist, individuelle Berichte der Augenzeugen, der zivilen Bevölkerung, zu sammeln, um die Erinnerung an die Verbrechen wach zu halten und ein Archiv aufzubauen, zu dem alle, die die Augenzeugenstimmen hören möchten, Zugang hätten. Die Zeugenaussagen wurden auf Fragebögen gesammelt – die ukrainischen Flüchtlinge haben sie in Polen ausgefüllt. Darüber hinaus wurden überwiegend auf dem ukrainischen Gebiet Filme aufgezeichnet. Die Datensicherheitsstandards wurden dabei strikt eingehalten und auf das Wohlergehen der Betroffenen wurde besonders Rücksicht genommen. Das Lemkin-Dokumentationszentrum arbeitet eng mit über hundert Freiwilligen, Vertretern der Wissenschaft, die die Verbrechen totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts erforschen, und mit Völkerrechtsexperten zusammen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums sprechen Ukrainisch und Russisch. Die Zeugnisse werden sowohl in Polen an Orten des vorübergehenden Aufenthalts von Flüchtlingen als auch in Kriegsgebieten gesammelt, wo sich immer noch Augenzeugen der russischen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung aufhalten. Die bislang gesammelte Dokumentation betrifft vorwiegend Ereignisse in den Oblasten: Charkiw, Donezk, Cherson und Kyjiw. Zahlreiche Zeugenaussagen stammen aus Mariupol, Charkiw, sowie Kyjiw mit Umland. Das Lemkin-Dokumentationszentrum hat in seiner Datenbank auch Bildmaterial zu den Verbrechen: Amateurvideos und -Fotos der Kriegszerstörungen, von professionellen Kameraleuten gemachte Aufnahmen von Kriegsschäden, Filmberichte von Personen, die in russischer Gefangenschaft waren, sowie Unterlagen, die von den Zeugen als Ergänzung der Fragebögen zur Verfügung gestellt wurden. Einige Zeugnisse wurden unweit der Frontlinie aufgenommen, wo jeden Tag Menschen starben. Die Filme werden auf diese Weise eine Art Testament, Stimme aus dem Jenseits und die letzte Aufzeichnung der Geschehnisse.
Ab Februar 2023 veröffentlichen wir schrittweise in der Datenbank „Aufzeichnungen des Terrors“ die Fragebögen, Film- und Bildaufnahmen sowie Dokumentarfilme über die russischen Verbrechen gegen die ukrainischen Zivilisten. Das Dokumentationsmaterial wird erschlossen, anonymisiert, digitalisiert und ins Polnische und Englische übersetzt. Die personenbezogenen Daten werden überprüft und die Dokumente danach als Repositorium der Wissenschaft, den Medienschaffenden und allen für die gegenwärtige Geschichte interessierten Personen zur Verfügung gestellt. Wir arbeiten unabhängig von der Justiz, aber unsere Datenbank kann eine wichtige Quelle sein, um die in der Ukraine begangenen Verbrechen zu bestrafen. Wir haben deshalb als Schirmherren für unsere Tätigkeit Rafael Lemkin gewählt, der den Entwurf für die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes verfasst hatte. Sie wurde von der UNO am 9. Dezember 1948 in Paris verabschiedet und wird heute auch „Lemkin-Konvention“ genannt.
Mit Lemkins Lebenswerk ist noch eine andere wichtige Aufgabe des Dokumentationzentrums verbunden, nämlich eine Änderung des Völkerrechts anzuregen. Die völkermörderischen Handlungen der russischen Armee können durch die historische Darstellung der Kriegsereignisse identifiziert und benannt werden. Die bisher verwendeten Bezeichnungen haben sich oft als unzureichend erwiesen, um deren Merkmale und Ausmaß adäquat zu erfassen. Dies regt dazu an, neue Perspektiven zu suchen, was nicht einmal Juristinnen und Juristen immer verstehen Die Kategorien „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Kriegsverbrechen“ sind ihrer Meinung nach ausreichend, um die Ereignisse in der Ukraine zu qualifizieren. Wir sammeln Berichte von Augenzeugen und Opfern der Kriegshandlungen in Polens östlichem Nachbarland und möchten damit auf Folgendes aufmerksam machen. Wir brauchen eine neue Klassifikation für Verbrechen, um die Straftaten des russischen Militärs sinngemäß aufzufassen und die Verantwortlichen verurteilen zu können. Jedoch unsere wichtigste Aufgabe, die wir jeden Tag stemmen, ist, die Welt an den Ukrainekrieg zu erinnern. Es ist unsere Pflicht, die Stimmen der Kriegsopfer zu verewigen, sie anschließend der Welt zu präsentieren und zu versuchen, sie zu verstehen.
Im Portal „Aufzeichnungen des Terrors“ haben Sie freien Zugriff nur auf die Beschreibungen der einzelnen Zeugenberichte. Der Vollzugriff zu den Dokumenten, dem Film- und Bildmaterial ist nur in den Lesesälen der Bibliothek des Pilecki-Instituts in Warschau und Berlin möglich. Wir arbeiten noch an den Nutzungsbedingungen und werden sie zu gegebener Zeit bekanntgeben.