„Aufzeichnungen des Terrors“
Die „Aufzeichnungen des Terrors“ sind ein vom Witold-Pilecki-Institut für Solidarität und Tapferkeit realisiertes modernes Projekt an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Forschung, Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur im weitesten Sinne. Wir bauen die größte Sammlung von Zeugenaussagen von Zivilisten aus dem besetzten Europa auf, die ONLINE verfügbar ist.
In der speziell für das Projekt erstellten Online-Datenbank mit Zeugenaussagen veröffentlichen wir Berichte polnischer Bürgerinnen und Bürger, die während des Zweiten Weltkriegs unter dem deutschen und dem sowjetischen Totalitarismus gelitten haben. Hinter diesen Zeugnissen verbergen sich die persönlichen Erfahrungen tausender Polinnen und Polen – Opfer totalitärer Verbrechen und ihrer Angehörigen.
Die umfangreichsten Zeugenaussagen auf unserem Portal sind die Protokolle von Zeugenvernehmungen. Polnische Bürgerinnen und Bürger sagten nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Hauptkommission für die Untersuchung deutscher Verbrechen in Polen aus. Seit dem 17. September 2017 stellen wir Berichte über sowjetische Verbrechen zur Verfügung. Sie wurden von Soldaten der Anders-Armee und Zivilisten nach ihrer Flucht aus der Sowjetunion abgegeben. Am 27. September 2018 wurden sie durch Berichte polnischer Bürgerinnen und Bürger, die Juden während des Zweiten Weltkriegs geholfen haben, ergänzt. Am 12. April 2019 veröffentlichten wir Zeugenaussagen über die Opfer des Massakers von Katyn. Das Portal „Aufzeichnungen des Terrors“ fördert das Wissen über die doppelte Besatzung in Polen und hält die Erinnerung an die Opfer des Totalitarismus wach.
Die polnische Geschichte im Gedächtnis der Welt
Die polnischen Erfahrungen mit zwei Totalitarismen sind ein wichtiger Teil des Welterbes. Die polnische Stimme wird jedoch in der internationalen Diskussion über die Geschichte des 20. Jahrhunderts kaum gehört. Es mangelt an Übersetzungen von Quellentexten, die Errungenschaften der polnischen Wissenschaft und Kultur werden manchmal übersehen, und es kommen eklatante Fehler in öffentlichen Auftritten über Polens Rolle im Zweiten Weltkrieg vor. Zeugenaussagen vor der Hauptkommission für die Untersuchung deutscher Verbrechen in Polen blieben ausländischen Forschenden und Kulturschaffenden lange Zeit unbekannt. Die Zeugenaussagen von Soldaten der Anders-Armee und von Zivilisten über ihre Erfahrungen im Exil in der Sowjetunion wurden nach dem Krieg in polnischen Zentren im Ausland aufbewahrt, waren aber nur in polnischer Sprache verfügbar. Inzwischen ergibt sich aus den persönlichen Berichten Tausender polnischer Bürger ein schockierendes Bild der totalitären Politik des Terrors im besetzten Land. Es ist höchste Zeit, dass diese Stimme in Polen und in der Welt Gehör findet.
All diese Zeugnisse waren bisher in Archiven verstreut und verschlossen. Heute erreichen sie einen breiten Kreis von Empfängern, ermöglichen es, familiäre und lokale Geschichten zu entdecken und die Aufmerksamkeit der Forschenden, Medien- und Kulturschaffenden auf sich zu lenken. Durch ihre Übersetzung ins Englische erreichen sie auch ausländische Empfänger, popularisieren somit in der ganzen Welt das Wissen über die doppelte Besatzung Polens und über die Opfer des Totalitarismus.
Stimmen und Gesichter von Zeitzeugen des Totalitarismus
Der Aufbau der Zeitzeugen-Datenbank begann mit den ersten Berichten über Warschau und seine Umgebung, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Darunter befanden sich Berichte über den deutschen Terror in der besetzten Hauptstadt: Straßenexekutionen, Razzien, den Alltag im Warschauer Ghetto und die Ermordung der polnischen Intelligenz in Palmiry und anderen Ortschaften um Warschau. Wir präsentieren Zeugnisse von Pawiak- und „Gęsiówka“-Häftlingen sowie von Personen, die am Gestapositz in der Szucha-Allee verhört wurden. Teilweise stammen die Zeugenaussagen von polnischen Juden, die die Deportation in das Vernichtungslager Treblinka überlebt haben. Wir stellen die Berichte von Warschauerinnen und Warschauern zur Verfügung, die das Massaker im Stadtbezirk Wola überlebt haben. Es war eine großer Völkermord, den die Deutschen in den ersten Tagen des Warschauer Aufstandes begangen haben.
Das Portal „Aufzeichnungen des Terrors“ wird ständig erweitert. Zeugnisse aus ganz Polen werden in die Datenbank aufgenommen. Insbesondere liegt es uns daran, Zeugenberichte aus kleineren Städten und ländlichen Gebieten zur Verfügung zu stellen, in denen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die doppelte Besatzung zwar noch lebendig sind, aber bisher kein größeres Interesse gefunden haben.
Jedes Zeugnis im Portal „Aufzeichnungen des Terrors“ wurde detailliert beschrieben. Dies erleichtert die Identifizierung von Zeugen und Orten des Geschehens sowie die zeitliche Einordnung des Gesagten. Über eine Volltextsuche und ein Schlagwortsystem (sog. Tags) finden die Nutzer schnell die Zeugnisse, für die sie sich interessieren.
Nachkriegsjustiz und ihre Grenzen
Die Hauptkommission für die Untersuchung deutscher Verbrechen in Polen wurde 1945 gegründet. Sie dokumentierte die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, führte Ermittlungen und veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Recherchen. Sie war landesweit über ein Netz von Bezirkssfilialen tätig. Die von der Kommission gesammelten Beweise haben nach dem Krieg zur Verurteilung deutscher Verbrecher beigetragen: des Gauleiters im Warthegau Arthur Greiser, des Gouverneurs des Distrikts Warschau im Generalgouvernement Ludwig Fischer, des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss u. a. Aufgrund der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der neuentstandenen Deutschen Demokratischen Republik wurden 1949 im Namen der Kommission „deutsche Verbrechen“ durch „NS-Verbrechen“ ersetzt. Die Kommission arbeitete mit unterschiedlicher Intensität – am aktivsten war sie unmittelbar nach dem Krieg und in den 1960er Jahren, als die deutschen Verbrechen zu verjähren drohten. Zeugenaussagen wurden bis in die 1980er Jahre gesammelt.
Die Kommission funktionierte in der Realität eines totalitären Staates, der mehr an der Liquidierung des antikommunistischen unabhängigen Untergrunds als an der Verfolgung und Verurteilung deutscher Verbrecher interessiert war. Symbolisch für das Unrecht der Nachkriegszeit ist das Schicksal des SS-Gruppenführers Heinz Reinefahrt, der 1944 für den Völkermord im Warschauer Stadtteil Wola verantwortlich war. Nach dem Krieg war er Bürgermeister von Westerland auf Sylt, Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages und als Rechtsanwalt tätig. Die kommunistischen Behörden gelang es nicht, seine Auslieferung von Westdeutschland nach Polen zu vollziehen. Es fielen nur wenige Strafurteile für deutsche Verbrechen oder Kollaboration, manchmal wurden Soldaten, die loyal zum polnischen Untergrundstaat standen, als „Faschisten“ verurteilt. Die Zeugen, die vor der Kommission aussagten, mussten darauf Hinsicht nehmen. Sie haben oft Informationen, die Repressalien des kommunistischen Gewaltapparats gegen ihre Angehörigen und Freunde hätten nach sich ziehen können, verschwiegen.
Die Aufgaben der Kommission, die um die Erforschung des kommunistischen Terrors erweitert wurden, wurden 1998 vom Institut für Nationales Gedenken (IPN) und seiner der Ermittlungsabteilung übernommen. Die dem IPN-Archiv übergebene Dokumentation, einschließlich der Zeugenaussagen, zählt 3.500 laufende Meter Akten.
Überlebende aus der sowjetischen Hölle
Die Berichte polnischer Bürgerinnen und Bürger, die zusammen mit der Anders-Armee die Sowjetunion verlassen haben, wurden am intensivsten ab 1943 gesammelt – nach der Entdeckung der Gräber in Katyn und dem Abbruch der polnisch-sowjetischen Beziehungen. Individuelle Aussagen polnischer Zeugen dokumentierten den Überfall der Roten Armee auf die Zweite Polnische Republik am 17. September 1939, die Gräueltaten während der zweijährigen sowjetischen Besatzung und das tragische Schicksal der Polen im Exil. Ziel der Sammlung von Zeugenaussagen war die Verbreitung der Wahrheit über die Verbrechen des kommunistischen Totalitarismus in der ganzen Welt.
Die Zeugenaussagen sind ein bewegender Bericht über die Erfahrungen der Menschen aus den polnischen Grenzgebieten im Osten während des Zweiten Weltkriegs. Darunter befinden sich Berichte von Personen, die vom NKWD als „Volksfeinde“ verhaftet, während der Ermittlungen gefoltert und zu jahrelangen Lageraufenthalten verurteilt wurden. Die in den Osten Deportierten berichten von einer mehrwöchigen Reise in Viehwaggons, den harten Lebensbedingungen der Verbannten, von Schwerstarbeit, Hungerrationen und dem Tod ihrer Angehörigen. Aus den Berichten ergibt sich das Bild eines dramatischen Wettlaufs mit der Zeit, als die Polen versuchten, nach der Ankündigung der Amnestie die Rekrutierungsstellen der Anders-Armee zu erreichen.
Erinnerung an das Massaker von Katyn
Am 79. Jahrestag des Massakers von Katyn wurden in der Datenbank „Aufzeichnungen des Terrors“ bislang unbekannte Archivdokumente zur Verfügung gestellt. Als im Jahr 1989 Jędrzej Tucholski, langjähriger Forscher des Massakers von Katyn, in „Zorza. Rodzinny Tygodnik Katolików“ (dt. Morgenröte. Wochenzeitschrift der Katholiken) darum appellierte, Informationen über polnische Offiziere, die 1940 von den Sowjets ermordet wurden, zuzusenden, war die Resonanz auf seinen Aufruf sehr groß. In nur zehn Monaten gingen bei den Redaktionen der Wochenzeitschrift „Zorza“ und der Tageszeitung „Express Wieczorny“, welche die Aktion unterstütze, mehrere Tausend Briefe ein. Zum ersten Mal seit Jahren durfte man offen über Katyn sprechen.
Im Rahmen unseres Projektes veröffentlichen wir Berichte aus der Sammlung des Katyn-Museums – Außenstelle des Museums der Polnischen Armee, die aus der Sammlung von Jędrzej Tucholski stammen. Unter den an die Wochenzeitschrift „Zorza“ gesandten Dokumenten befinden sich nicht nur Informationen über die Opfer, sondern auch Briefe, die die in den Lagern von Koselsk, Ostaschkow und Starobelsk inhaftierten polnischen Offiziere an ihre Familien geschrieben haben. Diese Sammlung ist ein außergewöhnliches Zeugnis für das Leben der späteren Opfer des sowjetischen Verbrechens, das Leid ihrer Familien und den Kampf gegen die „Katyn-Lüge“.
Zeugnisse von unbekannten Gerechten
Anlässlich des 76. Jahrestages der Gründung des Provisorischen Komitees für die Unterstützung der Juden („Żegota“) wurden in der Datenbank „Aufzeichnungen des Terrors“ die Zeugnisse polnischer Bürgerinnen und Bürger, die Juden während der Besatzung geholfen haben, zugänglich gemacht. Sie wurden seit 1999 vom Komitee zum Gedenken an die polnischen Judenretter gesammelt. Im Laufe der Jahre waren es Hunderte Berichte über Polinnen und Polen, die während der deutschen Besatzung die Mitbürger jüdischer Herkunft sowie Juden aus anderen Ländern vor dem Holocaust retteten. Unter den Zeugenaussagen befinden sich Berichte von Personen, die mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurden, u. a. von Irena Sendler, Leiterin des Kinderreferats bei dem Rat für die Unterstützung von Juden („Żegota“) und anderen, die bis heute unbekannt blieben. Ein Teil der Berichte wurde von jüdischen Holocaust-Überlebenden bereitgestellt, wie z. B. Stanisław Aronson, einem polnischen Juden und Offizier der Direktion für Diversion der Heimatarmee (poln. Kedyw AK), dem nach seiner Flucht aus dem Auschwitz-Transport ein polnischer Bauer geholfen hat.
Das Komitee zum Gedenken an die polnischen Judenretter wurde auf Initiative der kanadisch-polnischen Aktivistin Anna Poraj-Wybranowska gegründet. Zu seinen Mitbegründern gehörten auch der Historiker Prof. Tomasz Strzembosz, der Befehlshaber der Pfadfinderbewegung „Szare Szeregi“ (dt. Graue Reihen) Stanisław Broniewski „Orsza“, der erste Botschafter der Dritten Polnischen Republik in Israel Prof. Jan Dowgiałło, der Historiker Prof. Jan Żaryn, Agnieszka Bogucka, Prof. Marian Marek Drozdowski, Tadeusz Krawczak, Zbigniew Mańkowski, Jerzy Śliwczyński und Szczepan Żaryn. Es handelte sich um eine zivilgesellschaftliche Initiative, die beabsichtigte, nicht nur die Hilfe für Juden während der deutschen Besatzung zu dokumentieren, sondern auch ein Denkmal für polnischen Judenretter auf dem Grzybowski-Platz in Warschau errichten zu lassen. Gegenwärtig werden die Komiteebestände als Leihgabe im Archiv Neuer Akten aufbewahrt.
Aufsätze über die unterbrochene Kindheit
Kinder sind Opfer jedes Krieges. Dies gilt insbesondere für den Zweiten Weltkrieg, der im Namen verbrecherischer, totalitärer Ideologien geführt wurde und dem eine außergewöhnlich brutale Besatzung polnischer Gebiete in den nächsten Jahren folgte. Um auch den Jüngsten eine Stimme zu geben, die angesichts eines bewaffneten Konflikts am verletzlichsten und sensibelsten sind, haben wir in der Datenbank „Aufzeichnungen des Terrors“ Aufsätze von polnischen Kindern über den Zweiten Weltkrieg zugänglich gemacht.
In den drei Jahren nach Kriegsende haben Kinder – spontan oder auf Geheiß ihrer Lehrerinnen und Lehrer – Tausende Schularbeiten über ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Krieg geschrieben. Diese Arbeiten entstanden größtenteils im Rahmen eines Wettbewerbs, der 1946 vom damaligen Bildungsministerium ausgeschrieben und in den Grundschulen unter Aufsicht der Schulaufsichtsbehörden durchgeführt wurde. Die jüngeren Kinder (Klassen 1-3) zeichneten ihre Erinnerungen in Form von Bildern, die Schüler der höheren Klassen (4-7) sowie der Sekundar- und Berufsschulen sollten sich schriftlich äußern. Die Arbeiten wurden anschließend in den polnischen Staatsarchiven aufbewahrt. Heute können die Aufsätze der Schulkinder, die bisher nur im Archiv Neuer Akten, im Staatsarchiv Kielce und im Staatsarchiv Radom verfügbar waren, auf unserem Portal eingesehen werden. Auf diese Art und Weise haben seine Nutzer die Möglichkeit, die Sicht der Kinder auf die vielfältige Realität der Kriegs- und Besatzungszeit kennen zu lernen.